LeseVorabruf

Lesevorabruf bezeichnet in der deutschen Bildungsdidaktik eine Vorbereitungsstrategie beim Lesen, bei der Leserinnen und Leser vor dem eigentlichen Lesen gezielt Informationen aus dem Gedächtnis abrufen, Erwartungen und Vorkenntnisse aktivieren und einen Bezug zum zu bearbeitenden Text herstellen. Ziel ist es, das Textverstehen zu erleichtern, indem vorhandenes Vorwissen mit neuen Informationen verknüpft und die Aufnahme relevanter Konzepte vorbereitet wird. Die Praxis orientiert sich an Theorien des Schema-Verstehens und der Retrieval Practice; der Gedächtnisabruf soll den Leseprozess strukturieren und die Wahrscheinlichkeit erhöhen, Schlüsse und Hypothesen zu bilden.

In der Regel erfolgt Lesevorabruf durch kurze, vor dem Text gestellte Anregungen: Fragen zur Thematik, eine kurze Antizipation, eine Bestandsaufnahme des Vorwissens oder die Nutzung von Vorausorganisatoren wie K-W-L-Listen, Mind-Maps oder Glossar-Hilfen. Lehrkräfte können solche Vorabfragen mündlich oder schriftlich durchführen; Lernende können auch eigenständig vor dem Lesen entsprechende Notizen erstellen. Lesevorabruf wird oft im Kontext von Lese- oder Textkompetenzförderung eingesetzt, eignet sich aber auch für fachspezifische Texte mit fachsprachlichem Vokabular.

Die Evidenz zu seiner Wirksamkeit ist gemischt: Vorteile treten häufiger auf, wenn der Vorabruf gezielt auf das Textziel ausgerichtet ist und ausreichend Zeit für Reflexion bleibt. Kritisch diskutiert wird, dass ein schlecht konzipierter Vorabruf zu oberflächlicher Aktivierung oder verfestigten Fehlvorstellungen führen kann. Insgesamt gilt Lesevorabruf als eine von mehreren Strategien zur Lesekompetenzförderung, die je nach Lernstand und Textspezifik angepasst werden sollte.