Leserwartungen

Leserwartungen bezeichnet die Erwartungen, die Lesende im Verlauf einer Erzählung an deren Verlauf, Figurenverhalten und Auflösung entwickeln. Diese Erwartungen entstehen aus Vorwissen, Genrekonventionen, kulturellem Kontext und individuellen Leseerfahrungen. Sie wirken als Rahmen, in dem Ereignisse interpretiert und bewertet werden.

In der Narratologie und der Rezeptionsforschung wird untersucht, wie solche Erwartungen entstehen und wie sie das Verständnis eines Textes beeinflussen. Leser bilden mithilfe von Hinweisen mentale Modelle der Handlung. Überraschung oder Enttäuschung resultieren, wenn die Erzählung diese Modelle bestätigt, korrigiert oder widerspricht.

Wirkungsvoll gesteuerte Leserwartungen ergeben sich durch Foreshadowing, erzählerische Hinweise, erzählerische Zuverlässigkeit oder Fehlleitungen. Genre-Konventionen setzen Basisannahmen (z. B. ein Krimi erwartet Auflösung eines Rätsels, eine Liebesgeschichte ein positives Ende). Autoren balancieren Vorhersehbarkeit und Überraschung, um Spannung zu erzeugen.

Für die Rezeption hat die Ausrichtung der Leserwartungen wichtige Konsequenzen: Sie beeinflussen Messungen von Qualität, Engagement und Emotionalität. Ein Text, der Erwartungen konsistent erfüllt, schafft Vertrauen, während das Verletzen dieser Erwartungen zu Irritation oder Neubewertung führen kann. Leser können je nach Kontext unterschiedlich reagieren.

Unterschiede entstehen durch Genre, Medium und individuelle Erfahrungen. In literarischen Werken sind stabile Muster oft stärker ausgeprägt als in experimentellen Texten oder adaptiven Medien. Das Verständnis von Leserwartungen hilft bei der Analyse von Spannung, Struktur und Interpretation.